Beleidigt in Berlin: die Strafanzeigeritis

von Michael Immel

Diesen mimosenhaften Politikern sei einmal ein Blick in das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 2650/19 vom 21. März 2022 empfohlen, das ich hier gerne ausschnittweise zitiere:

„Insbesondere in Angelegenheiten von öffentlichem Interesse und im politischen Meinungskampf gelte eine Vermutung zu Gunsten der Meinungsfreiheit. Dies gelte auch für Äußerungen, die in scharfer und abwertender Kritik bestünden, mit übersteigerter Polemik vorgetragen würden oder in ironischer Weise formuliert seien.“ (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/03/rk20220321_1bvr265019.html, Rn. 5)

„Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht (BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 -, Rn. 29 m.w.N., und vom 19. Dezember 2021 – 1 BvR 1073/20 -, Rn. 31).“
(ebenda, Rn. 17)

Vor dem Hintergrund des „Schutz(es) der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik“ entschied das BVerfG, „dass Bürgerinnen und Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträgerinnen und Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden.“ (ebenda, Rn18)

„Unter dem Aspekt der Machtkritik haben die Gerichte auch Auslegung und Anwendung des Art. 10 Abs. 2 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu berücksichtigen. In ständiger Rechtsprechung betont der Gerichtshof, dass die Grenzen zulässiger Kritik an Politikerinnen und Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen“. (ebenda, Rn19)

Der § 188 StGB, der u.a. für die Beleidigung von Politikern als eine Art Majestätsbeleidung eine härtere Bestrafung als für die Beleidigung des „Souveräns“ (des einfachen Bürgers) vorsieht, dürfte es nach dieser Rechtsprechung gar nicht geben. Das Gesetz hat es bis vor wenigen Jahren auch noch gar nicht gegeben. Anstatt die „Majestätsbeleidigung“ ausländischer Staatsrepräsentanten in der Folge der Beleidigung Erdogans als „Ziegenficker“ durch Böhmermann aus dem StGB zu entfernen, wurde u.a. der § 188 erst geschaffen.

Böhmermann wurde übrigens freigesprochen, womit sich für mich die Frage stellt, ob man Politiker überhaupt wirksam im Sinne des StGB beleidigen kann!?

https://reitschuster.de/post/beleidigt-in-berlin-die-strafanzeigeritis/